Das Bewusstsein sitzt in seinem geschlossenen Büro und bekommt mal wieder überhaupt nichts mit. Im Hintergrund läuft leise Yiruma. Es hält vielleicht sogar ein Schläfchen. Plötzlich stößt das Unterbewusstsein die Tür auf, stürmt herein, und noch bevor es einen Stapel Diagramme incl. Zusammenfassung und sonstiges Zeug auf den Schreibtisch knallen kann, ruft es „Hey Bewusstsein! Guck mal, was ich cooles rausgefunden hab! Was hälst du davon? :-)“.
So ähnlich ging es mir vorhin, als mir eine Modellvorstellung zur Entstehung von ethischen Grundsätzen eingefallen ist. Getriggert wurde das Ganze vermutlich durch eine interessante Moraldiskussion gestern im Trainingskeller, an der der Friedrich seine Freude gehabt hätte. ^^
Darüber, welche Verhaltensweisen (wie z.B. „sein Haustier aufessen wenn man Hunger hat“, „jemanden ohne Erlaubnis fotografieren“ usw.) OK oder nicht OK sein sollen, sind sich Menschen ja nicht unbedingt einig, und dass es da kaum ein absolutes Richtig oder Falsch gibt, zeigt ja schon die Postmoderne. Das liegt daran, dass schon die ethischen Grundsätze, aus denen man oft logisch auf konkrete Fälle schließt, unterschiedlich sein können. Veranlagung zu manchen Sachen ist vielleicht sogar angeboren, ansonsten ist viel wohl auch anerzogen oder sonst irgendwie erworben. Die Frage, über die ich gerade nachdenke, ist, wie diese Grundsätze überhaupt entstehen können.
Hier vermute ich, dass diese oft gar nicht abstrakt erdacht werden, sondern aus den schon vorhandenen Gefühlen für die Einzelfälle hergeleitet werden.
Um ein einfaches mathematisches Modell als Analogie anwenden zu können, tue ich jetzt mal einfach so, als wäre es möglich, gewisse Verhaltensweisen, die es zu bewerten gilt, in einzelne unabhängige Eigenschaften (wie z.B. Art der Tat, Motive, Wirkung, Umstände usw.) aufzuteilen, die sich dann wiederum in Zahlen ausdrücken lassen (Quantisierung). Eine Handlung würde sich somit als n-dimensionaler Vektor darstellen lassen.
Um es anschaulich zu halten, reduzieren wir die graphische Darstellung des persönlichen Moralraums einer Person hier mal auf zwei Dimensionen. (So kann ich mich beim Malen der linearen Regression, die noch folgt, auch vor Hyperebenen drücken. ;-)) Verschiedene Handlungen werden eingezeichnet und als grüner Kreis markiert wenn die Person die OK findet und als rotes X wenn die Person, zu der das Diagramm gehört, sie nicht OK findet. Das könnte dann z.B. so aussehen:
Nun macht sich die Person (vielleicht um ihre Gefühlte zu Begründen) ein allgemeines ethisches Prinzip zu eigen, dass sich für sie intuitiv ergibt und/oder dass sie übernommen (und dabei eventuell modifiziert) hat. Wenn es ein einfaches (wie beispielsweise Kants kategorischer Imperativ oder „Ich lüge nie.“ usw.) ist, bietet es sich natürlich an, als mathematisches Äquivalent eine Regressionsgerade zu benutzen. 😉 Dieses einfache Prinzip trennt die beiden Gruppen schon recht gut, jedoch werden einige wenige Datenpunkte (moralisch zu bewertende Handlungen) nicht richtig klassifiziert (der grüne oben links und der rote in der Mitte). Manchmal kommen solche ja auch erst im Nachhinein hinzu, weil sich vorher noch nie die Situation ergeben hat, über sie nachzudenken. Diese Punkte von anderen werden dann gerne rausgekramt, um zu zeigen, dass der jenige inkonsistent sei, und somit nicht Recht haben könne. In unserem Fall sähe ein besser trennendes Prinzip vielleicht so aus:
Diese Funktion ist nicht nur mathematisch komplizierter, sondern als ethisches Prinzip vielleicht auch kaum auzudrücken. (Wer mir jetzt mit dem Kernel-Trick von Support Vector Machines kommen will, darf sich das sparen. Es ist ja nur ’ne Analogie. ;-)) Die Datenpunkte könnten auch noch beliebig gemeiner durcheinander liegen. Eine Möglichkeit, trotzdem mit einfachen Prinzipien (Geraden) durch die Tür zu kommen, ist die, in verschiedenen Situationen verschiedene (logisch manchmal kaum miteinander vereinbare) Regeln zu benutzen:
(Wäre das dann vielleicht sowas wie Doppelmoral? ^^)
Wenn man hier jedoch ein Prinzip in den Bereich eines anderen Prinzips extrapoliert, können kognitive Dissonanzen entstehen, die einem von anderen Leuten dann auch gerne mal aufs Brot geschmiert werden. Es ist also meist praktisch wenn eine einzige Gerade überall funktioniert, jedoch nicht immer möglich. Besonders wenn es bei den Situationen plötzlich nicht mehr um irgendwen abstraktes sondern um einem nahestehende Leute geht, werden viele da dann doch recht flott mal nichtlinear. 😉
Zusätzlich könnte es sein, dass gewisse Punkte nach neuen Erfahrungen plötzlich anders bewertet werden (ihre Farbe wechseln), je nach Stimmung in die eine oder die andere Kategorie fallen oder sogar gar nicht klar zugeordnet werden können und je nach konkretem Fall anders gesehen werden.
Worauf will ich überhaupt hinaus? So sicher bin ich mir da gerade auch nicht, aber als Moral (höhö) von der Geschichte könnte man ja vielleicht mitnehmen, dass es nicht zwangsläufig so ist, dass ethische Prinzipien, die man gut findet, zu allen moralischen Gefühlen, die man so hat, passen müssen, und dass selbst diese zwischen verschiedenen Personen variieren können, ohne dass es eine dem Universum inhärente Wahrheit diesbezüglich gäbe. Wenn man über bestimmte Einzelfälle diskutiert, kann es also helfen (im Sinne von Stressvermeidung), sich auch der eigenen Subjektivität bewusst zu sein, und dazu weder von sich noch vom anderen 100%ige logische Konsistenz der moralischen Gefühle bezogen auf das jeweils vertretene Grundprinzip zu erwarten. 🙂
Achso, geschicktes absichtliches Manipulieren von anderen würde in diesem Modell übrigens ungefähr so aussehen:
Man kennt grob den Moralraum von jemandem, der sich z.B. so darstellt:
Der schwarze Punkt mit dem Fragezeichen steht nun für eine Handlung, zu der der andere noch keine Meinung hat, man selbst jedoch schon, und von der man den anderen überzeugen will. Nun bringt man ihm ein einfaches ethisches Prinzip näher, dass kompatibel zu seinen Gefühlen ist, den schwarzen Punkt jedoch auf die Seite klassifiziert, auf der man ihn selbst gerne hätte. Wenn die Freiheiten des gegebenen Moralraums der Person es zulassen, kann man sie also in beide Richtungen beeinflussen, je nach Belieben.